Gerhard Bernhard van Haar
1760 – 1837



Hamm

Friedrich Engels sen.
1796 – 1860



Barmen

 Ja, lieber Friedrich, der Herr hath uns im verfloſsſsenen Winter, ſso wie unſser
ganzes Leben hindurch unausſsprechlich viel Gutes erwieſsen. Wir ſsind beide
ſschon in den Jahren, die das Sprichwort machten: Senectus ipſsa morbus,
lat laut welches wir alſso immer krank ſeÿnseyn müßten; und dennoch ha
ben wir für das ganze Jahr ˙1825. dem Arzt uund Apotheker nur etwa zwei
Rttr.Reichsthaler b. c.Bergisch Courant bezahlt. Wir? – Nein, – ich ist das rechte Wort; ich bekam eine
Verhärtung auf das rechte Schlüſsſselbein, welche im obern Fleiſsch eine hohe
Geſschwulst verurſsachte. Mit Gottes Hülfe zertheilte es der Wundarzt.
Wohl erhob ſsich im Fabriken- uund Handlungsgebiet ein Sturm ſso heftig, daß
ſselbst maſsſsive Palläste zuſsammenstürzten. Und wiewohl ich mich nicht
rühme, tiefe Blicke in das Handlungsgebäude thun zu können: ſso glaube ich
doch, daß die Bauherren ſsolcher Palläste, zwar nicht alle, aber doch der größte
Theil derſselben ſsolchen Einsturz verſschuldet hatten, uund andere mit ſsich ins Ver
derben zogen. Es gehört zur Lebensweisheit, aus dem Böſsen oder uUnangeneh
men nicht nur das Kleinere zu wählen; ſsondern aus dieſsem UebelÜbel noch das
Gute zu ſsuchen, was darin liegt. Das thun Sie ſselbst ſschon; daher ich es unnö
thig finde, darüber noch ein Wort zu ſschreiben.

Die Frau Gutacker, welche wir nicht kennen, muß viel Erfahrung haben,
wenn ſsie einem Kinde, das ſseine Nahrung mit Appetit zu ſsich nimmt, und
ſsich derſselben mit Anstand wieder entlediget, eine gute Geſsundheit beilegt.
Aber ſsie steht weit hinter mancher hieſsigen Frau zurück, welche es an der
Wiege ſsehen kann, wenn das in derſselben ſschlafende Kind ein Bedürfniß
der Ausleerung hat. Ihr Friedrich, der ſschon jetzt ſso viel auf Leſsen hält, ſschon
von jeher ſso neu‐ – wißbegierig ist, wollte ich ſsagen, – der durch Fragen
jedem

jedem Dinge auf den Grund kommen will, wird einst ein großer Ge
lehrter werden. Im vorigen Herbst kam er jeden Morgen, ſso bald er
angezogen war zu mir geſsprungen: – guten Morgen, Großvater, nun
erzähle mir etwas! – Ich werde mich bei ſseiner Wißbegierde wohl für
das nächste Wiederſsehen auf einige ſseinem Alter uund ſseinen Fortſschritten
angemeſsſsene Erzählungen vorbereiten müſsſsen. Dem Hermann las
ſsen Sie immer noch ſseine Peitſsche uund ſsein Steckenpferd. Haben doch wir al
ten Leute noch das Unſsrige, uund von je her eins gehabt. Der ganze Unter
ſschied ist nur, daß wir es mehrmals vertauſscht haben. Auch für den gemüth
lichen Herman̅Hermann wird die Zeit kommen, wo er das Eigentliche mit dem Un
eigentlichen vertauſscht. Daß die kleine Marie, die Mädchen oder Frau
en im Allgemeinen – (wobei ich jedoch, um mich gegen jeden UeberfallÜberfall
zu decken, Ausnahmen einräume, uund es jedem Mädchen uund jeder Frau
gerne gestatte, ſsich zu dieſsen Ausnahmen zu zählen,) – eitel ſsind, wer
ist Schuld daran? – Wer putzt die kleinen Dingerchen – mit Bändern, net
ten Kleidern oder Schüſsſselplaggen, stellt ſsie vor den Spiegel, uund ſsagt „staats.?
Wer nennt die jungen, heranreifenden Mädchen: „mein ſschönes Kind„; mag
es nun Kätchen oder Klärchen heißen.? Welcher Bräutigam hält nicht ſseine Braut
für ſschön, uund ſsagt ihr auch, daß ſsie es ist. Und wenn der Mann aufhört,
ſseiner Frau die Schönheit zum Vorwurf zu machen: ſso ſsieht er es doch gerne,
nicht daß ſsie ſsich in ihrem Hauſse täglich reinlich kleide – das muß jede
ordentliche Frau –, ſsondern, daß ſsie ſsich bei Feierlichkeiten, z. B.zum Beiſspiel Kindtau
fen, Hochzeiten, Concerten p.p.perge perge wirklich etwas putze. Hiemit will ich
nun behauptet haben, daß wir Männer nicht alleine aber ſso eitel ſsind
als das weibliche Geſschlecht, ſsondern daß wir in dieſsem ſso gar die Eitel
keit

Eitelkeit anfachen uund nähren. Das mag ein Paradoxon ſscheinen; aber wenn
man darüber die Stimmen ſsammeln, uund die Sache hiedurch uund durch Erhebung
eines Schreiens wollte entscheiden laſsſsen: ſso wären gewiß nicht nur die
meisten Stimmen, ſsondern auch das lauteste Geſschrei auf meiner Seite.
Denn, außer dem ganzen weiblichen Geſschlechte, würden mir doch einige
Männer beifallen. Meine Parthei könnte dieſse Wahrheit volltönend vier
stimmig ſsindgen, uund der Gegenparthei würden die Sopranstimmen fehlen.

 Ihr Conto‐Corrent enthält ohne Ihr Verſschulden ein Verſsehen. Sie konn
ten nicht wiſsſsen, daß ich ddem (H.Herrn vdKuhlen von der Kuhlen d.den ˙14. Janurar dieſses Jahrs zum
zweiten Mal die vollen 75. rttr.Reichsthaler gegen Quittung namens Casp.Caspar Engels
Söhne
bezahlt habe, uund es, ohne mir wehe zu thun, zahlen konnte. Dieſse 2te
Quittung steht auf dem Blatt der ersten. Unter derieſselben wird bei
Leben uund Wohlſsein im künftigen Januar auch die dritte kommen, wenn
Sie anders mich mit der Zahlung ferner beauftragen.

 Wenn Sie Snethlage bei ſseiner Reiſse nach Berlin die 6. Fr. d’orFriedrichs d’or für
ſseinen Vater in meinem Namen mitgeben wollen: ſso wird mir
das ſsehr lieb ſeÿnseyn. Ich erſspare dann das Porto. Haben Sie nur dann die
Güte mir den Betrag dieſser 6. Fr. d’orFriedrichs d’or in Berg.Bergiſsch Cour.Courant zu melden. Entweder
weder ſsende ich Ihnen dieſsen gelegentlich baarbar zurück, oder bezahle ihn
durch Lieferung von Butter, wenn anders die dortigen Hausfrauen die
hieſsige zum Kochen geeigneter finden, als die dortige.

 Leben Sie wohl! Gott ſsegne Sie uund die l.lieben Ihrigen! tauſsend Grüße an
alle dortigen Freunden von allen hieſsigen. Mit Liebe uund Achtung der
 Ihrige
  van Haar.

Lat. „Das Alter selbst ist eine Krankheit“.


Bergisch Courant, auch Bergischer Kassentaler, war eine in Düsseldorf geprägte Kurant-, d. h. durch den Metallwert gestützte, Münze des frühen 19. Jahrhunderts. Sollten Reichstaler – wie hier – in Bergisch Courant umgerechnet werden, musste der etwas geringere Wert des bergischen Geldes berücksichtigt werden.


Gerhard Bernhard van Haar bezieht sich mutmaßlich auf ein Unwetter im Winterhalbjahr 1825/26, das er im biblischen Ton schildert.


Hermann Engels (1822–1905), Bruder von Friedrich Engels.


Nicht ermittelt. Vermutlich eine Hebamme, Amme oder Kinderfrau.


Spüllappen (dialektal).


Prächtig, kostbar gekleidet (Rheinisches Wörterbuch, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 3.0).


Verrechnung von Forderungen und Verbindlichkeiten zur Leistungsabwicklung zwischen Gläubiger und Schuldner durch Feststellen des Saldos.


Johann Jakob von der Kuhlen (1777–1862), Pfarrer, 1826–1829 Superintendent in Hamm. 1802 Heirat mit Isabella Christina Friederike Engels (1780–1834) aus Hamm, nicht verwandt mit der Familie Engels aus Barmen. Bernhard van Haar hatte im Frühjahr 1826 die Kinder bei sich aufgenommen.


Auch Friedrichsdor, benannt nach Friedrich dem Großen, war eine preußische Goldmünze, die zwischen 1741 und 1855 geprägt wurde.


Friedrich Engels (1820–1895).

 Ja, lieber Friedrich, der Herr hath uns im verfloſsſsenen Winter, ſso wie unſser
ganzes Leben hindurch unausſsprechlich viel Gutes erwieſsen. Wir ſsind beide
ſschon in den Jahren, die das Sprichwort machten: Senectus ipſsa morbus,
lat laut welches wir alſso immer krank ſeÿnseyn müßten; und dennoch ha
ben wir für das ganze Jahr ˙1825. dem Arzt uund Apotheker nur etwa zwei
Rttr.Reichsthaler b. c.Bergisch Courant bezahlt. Wir? – Nein, – ich ist das rechte Wort; ich bekam eine
Verhärtung auf das rechte Schlüſsſselbein, welche im obern Fleiſsch eine hohe
Geſschwulst verurſsachte. Mit Gottes Hülfe zertheilte es der Wundarzt.
Wohl erhob ſsich im Fabriken- uund Handlungsgebiet ein Sturm ſso heftig, daß
ſselbst maſsſsive Palläste zuſsammenstürzten. Und wiewohl ich mich nicht
rühme, tiefe Blicke in das Handlungsgebäude thun zu können: ſso glaube ich
doch, daß die Bauherren ſsolcher Palläste, zwar nicht alle, aber doch der größte
Theil derſselben ſsolchen Einsturz verſschuldet hatten, uund andere mit ſsich ins Ver
derben zogen. Es gehört zur Lebensweisheit, aus dem Böſsen oder uUnangeneh
men nicht nur das Kleinere zu wählen; ſsondern aus dieſsem UebelÜbel noch das
Gute zu ſsuchen, was darin liegt. Das thun Sie ſselbst ſschon; daher ich es unnö
thig finde, darüber noch ein Wort zu ſschreiben.

Die Frau Gutacker, welche wir nicht kennen, muß viel Erfahrung haben,
wenn ſsie einem Kinde, das ſseine Nahrung mit Appetit zu ſsich nimmt, und
ſsich derſselben mit Anstand wieder entlediget, eine gute Geſsundheit beilegt.
Aber ſsie steht weit hinter mancher hieſsigen Frau zurück, welche es an der
Wiege ſsehen kann, wenn das in derſselben ſschlafende Kind ein Bedürfniß
der Ausleerung hat. Ihr Friedrich, der ſschon jetzt ſso viel auf Leſsen hält, ſschon
von jeher ſso neu‐ – wißbegierig ist, wollte ich ſsagen, – der durch Fragen
jedem

jedem Dinge auf den Grund kommen will, wird einst ein großer Ge
lehrter werden. Im vorigen Herbst kam er jeden Morgen, ſso bald er
angezogen war zu mir geſsprungen: – guten Morgen, Großvater, nun
erzähle mir etwas! – Ich werde mich bei ſseiner Wißbegierde wohl für
das nächste Wiederſsehen auf einige ſseinem Alter uund ſseinen Fortſschritten
angemeſsſsene Erzählungen vorbereiten müſsſsen. Dem Hermann las
ſsen Sie immer noch ſseine Peitſsche uund ſsein Steckenpferd. Haben doch wir al
ten Leute noch das Unſsrige, uund von je her eins gehabt. Der ganze Unter
ſschied ist nur, daß wir es mehrmals vertauſscht haben. Auch für den gemüth
lichen Herman̅Hermann wird die Zeit kommen, wo er das Eigentliche mit dem Un
eigentlichen vertauſscht. Daß die kleine Marie, die Mädchen oder Frau
en im Allgemeinen – (wobei ich jedoch, um mich gegen jeden UeberfallÜberfall
zu decken, Ausnahmen einräume, uund es jedem Mädchen uund jeder Frau
gerne gestatte, ſsich zu dieſsen Ausnahmen zu zählen,) – eitel ſsind, wer
ist Schuld daran? – Wer putzt die kleinen Dingerchen – mit Bändern, net
ten Kleidern oder Schüſsſselplaggen, stellt ſsie vor den Spiegel, uund ſsagt „staats.?
Wer nennt die jungen, heranreifenden Mädchen: „mein ſschönes Kind„; mag
es nun Kätchen oder Klärchen heißen.? Welcher Bräutigam hält nicht ſseine Braut
für ſschön, uund ſsagt ihr auch, daß ſsie es ist. Und wenn der Mann aufhört,
ſseiner Frau die Schönheit zum Vorwurf zu machen: ſso ſsieht er es doch gerne,
nicht daß ſsie ſsich in ihrem Hauſse täglich reinlich kleide – das muß jede
ordentliche Frau –, ſsondern, daß ſsie ſsich bei Feierlichkeiten, z. B.zum Beiſspiel Kindtau
fen, Hochzeiten, Concerten p.p.perge perge wirklich etwas putze. Hiemit will ich
nun behauptet haben, daß wir Männer nicht alleine aber ſso eitel ſsind
als das weibliche Geſschlecht, ſsondern daß wir in dieſsem ſso gar die Eitel
keit

Eitelkeit anfachen uund nähren. Das mag ein Paradoxon ſscheinen; aber wenn
man darüber die Stimmen ſsammeln, uund die Sache hiedurch uund durch Erhebung
eines Schreiens wollte entscheiden laſsſsen: ſso wären gewiß nicht nur die
meisten Stimmen, ſsondern auch das lauteste Geſschrei auf meiner Seite.
Denn, außer dem ganzen weiblichen Geſschlechte, würden mir doch einige
Männer beifallen. Meine Parthei könnte dieſse Wahrheit volltönend vier
stimmig ſsindgen, uund der Gegenparthei würden die Sopranstimmen fehlen.

 Ihr Conto‐Corrent enthält ohne Ihr Verſschulden ein Verſsehen. Sie konn
ten nicht wiſsſsen, daß ich ddem (H.Herrn vdKuhlen von der Kuhlen d.den ˙14. Janurar dieſses Jahrs zum
zweiten Mal die vollen 75. rttr.Reichsthaler gegen Quittung namens Casp.Caspar Engels
Söhne
bezahlt habe, uund es, ohne mir wehe zu thun, zahlen konnte. Dieſse 2te
Quittung steht auf dem Blatt der ersten. Unter derieſselben wird bei
Leben uund Wohlſsein im künftigen Januar auch die dritte kommen, wenn
Sie anders mich mit der Zahlung ferner beauftragen.

 Wenn Sie Snethlage bei ſseiner Reiſse nach Berlin die 6. Fr. d’orFriedrichs d’or für
ſseinen Vater in meinem Namen mitgeben wollen: ſso wird mir
das ſsehr lieb ſeÿnseyn. Ich erſspare dann das Porto. Haben Sie nur dann die
Güte mir den Betrag dieſser 6. Fr. d’orFriedrichs d’or in Berg.Bergiſsch Cour.Courant zu melden. Entweder
weder ſsende ich Ihnen dieſsen gelegentlich baarbar zurück, oder bezahle ihn
durch Lieferung von Butter, wenn anders die dortigen Hausfrauen die
hieſsige zum Kochen geeigneter finden, als die dortige.

 Leben Sie wohl! Gott ſsegne Sie uund die l.lieben Ihrigen! tauſsend Grüße an
alle dortigen Freunden von allen hieſsigen. Mit Liebe uund Achtung der
 Ihrige
  van Haar.

Lat. „Das Alter selbst ist eine Krankheit“.


Bergisch Courant, auch Bergischer Kassentaler, war eine in Düsseldorf geprägte Kurant-, d. h. durch den Metallwert gestützte, Münze des frühen 19. Jahrhunderts. Sollten Reichstaler – wie hier – in Bergisch Courant umgerechnet werden, musste der etwas geringere Wert des bergischen Geldes berücksichtigt werden.


Gerhard Bernhard van Haar bezieht sich mutmaßlich auf ein Unwetter im Winterhalbjahr 1825/26, das er im biblischen Ton schildert.


Hermann Engels (1822–1905), Bruder von Friedrich Engels.


Nicht ermittelt. Vermutlich eine Hebamme, Amme oder Kinderfrau.


Spüllappen (dialektal).


Prächtig, kostbar gekleidet (Rheinisches Wörterbuch, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 3.0).


Verrechnung von Forderungen und Verbindlichkeiten zur Leistungsabwicklung zwischen Gläubiger und Schuldner durch Feststellen des Saldos.


Johann Jakob von der Kuhlen (1777–1862), Pfarrer, 1826–1829 Superintendent in Hamm. 1802 Heirat mit Isabella Christina Friederike Engels (1780–1834) aus Hamm, nicht verwandt mit der Familie Engels aus Barmen. Bernhard van Haar hatte im Frühjahr 1826 die Kinder bei sich aufgenommen.


Auch Friedrichsdor, benannt nach Friedrich dem Großen, war eine preußische Goldmünze, die zwischen 1741 und 1855 geprägt wurde.


Friedrich Engels (1820–1895).


HammStadtansicht aus "Borussia", um 1840. © Gustav-Lübcke-Museum Hamm

BarmenBarmen und Wupperfeld (Ausschnitt). Johann Heinrich Bleuler (1758–1823). Umrissradierung mit Gouache, um 1810. © Museum Industriekultur Wuppertal